Gemeinsam mit dem Dirigenten Manfred Honeck und den Berliner Philharmonikern nimmt Mutter zum ersten Mal das Dvořák-Konzert auf – ein hochromantisches, schwelgerisches und emotionales Werk. »Es ist wunderbar, auf ein Orchester und einen Dirigenten zu stoßen, bei denen sofort etwas passiert, wenn man gemeinsam musiziert. Mit den Berliner Philharmonikern und Manfred Honeck entsteht eine Spannung, in der wir uns alle gegenseitig vorantreiben, beflügeln und inspirieren«, sagt Anne-Sophie Mutter.
Bitte akzeptieren Sie die entsprechenden Cookies, um den YouTube-Player anzuzeigen. Auf YouTube ansehen.
1978 haben Anne-Sophie Mutter und die Berliner Philharmoniker ihre erste gemeinsame Schallplatte aufgenommen. Herbert von Karajan hatte die junge Geigerin für sein Orchester entdeckt. Er wusste, dass Anne-Sophie Mutter und die Berliner Philharmoniker eine natürliche musikalische Einheit bilden. Weil sie das gleiche musikalische Selbstverständnis haben, die gleiche Klasse und die gleiche Auffassung von Klang. Auch nach 30 Jahren – 1983 entstand mit Brahms’ Doppelkonzert Mutters letzte Einspielung mit dem Orchester – bestimmt diese musikphilosophische Grundlage das gemeinsame Spiel.
Für Manfred Honeck ist die Aufnahme des Dvořák-Konzerts deshalb auch eine logische Zusammenführung zweier klassischer Pole. »Was Anne-Sophie Mutter auszeichnet, sind ihre Farben und ihre Brillanz. Man wird bei ihr immer wieder überrascht. Technisch ist sie sowieso eine der besten Geigerinnen«, sagt Honeck und erkennt ähnliche Qualitäten im Orchester der Berliner Philharmoniker: »Sie sind, ebenso wie Anne-Sophie Mutter, in der Lage, jeden Klang umzusetzen und jedes Tempo in größter Qualität zu gehen. Wenn Anne-Sophie Mutter nun wieder auf dieses Ensemble trifft, ist sofort eine besondere Energie zu spüren. Das Violinkonzert von Dvořák bekommt so eine fast liturgisch-sakrale Atmosphäre.«
Auch eine Orchester-Generation nach ihrer letzten gemeinsamen Aufnahme spielen noch immer Musiker bei den Berliner Philharmonikern, die bereits Anne-Sophie Mutters Anfänge miterlebt haben. Einer von ihnen ist der Hornist Fergus McWilliam. Seine erste Begegnung mit Mutter war ein Konzert von Vivaldis Vier Jahreszeiten. »Das war 1987«, erinnert sich McWilliam, »Herbert von Karajan hat das Orchester vom Cembalo aus geleitet. Damals war der Scharoun-Bau erst gut 20 Jahre alt, und wir haben in einer für Karajan typischen, sehr großen Besetzung gespielt. Es war unglaublich, welchen musikalischen Geist diese junge Musikerin ausstrahlte. Anne-Sophie Mutter hatte eine natürliche Urgewalt und gleichzeitig eine einmalige Technik. Und nun, als sie zurückkehrte, war es unglaublich zu spüren, dass diese Energie auch heute, bei den Aufnahmen zum Dvořák-Konzert, noch ebenso präsent ist.« Für McWilliam bedeutet die neue Aufnahme mit Anne-Sophie Mutter auch, dass sich ein natürlicher Kreis schließt: »Bei ihren ersten Auftritten mit uns galt sie noch als Wunderkind, heute bewundern wir eine ausgereifte, gewachsene Künstlerin, die genau weiß, was sie will.«
Im Orchester der Berliner Philharmoniker spielen inzwischen auch viele Wegbegleiter der Geigerin. Unter ihnen der Geiger Christoph Streuli, der gemeinsam mit Anne-Sophie Mutter studiert hat. Er sagt: »Das Besondere an Anne-Sophie Mutter ist, dass sie eine herausragende Live-Künstlerin ist. Sie gibt in jeder Phrase alles, schafft es, auch über lange Strecken neue und große Gedankenbögen zu schlagen und ein Orchester mitzureißen.«
Anne-Sophie Mutter hat sich über Jahrzehnte mit Dvořaks Werk auseinandergesetzt. Neben dem Mazurek op. 49, der Romanze op. 11 und der Humoreske op. 101 Nr. 7 steht sein Violinkonzert im Zentrum des neuen Albums: »Für mich war der musikalische Zeitpunkt für eine Aufnahme überreif, da ich mich intensiv mit diesem Stück auseinandergesetzt habe. Ich habe mir die Orchesterpartitur noch einmal vorgenommen und fast alles revidiert, was ich bisher getan hatte: die Fingersätze, die Bogenstriche und die Phrasierungen. Jetzt war es höchste Zeit, das Violinkonzert endlich auf Tonträger zu bannen.«
Dvořák hat das Werk 1879 auf Anregung seines Verlegers begonnen und erst zwei Jahre später beendet. Das Stück war für den Komponisten eine Herausforderung, und er wollte sich Rat beim Star-Geiger seiner Zeit, Joseph Joachim, einem Freund von Johannes Brahms, holen. Ihm schickte er die Partitur zur Bearbeitung. Aber die beiden sind sich über das Werk nicht einig geworden. Für Anne-Sophie Mutter ist die problematische Zusammenarbeit von Komponist und Geiger auch eine vertane Chance der Musikgeschichte: »Dvořák hat sich wahrscheinlich erhofft, dass er eine ähnliche Nähe zu Joachim entwickeln könnte, wie er sie zu Brahms hatte. Aber die beiden haben sich aus unerklärlichen Gründen nicht gefunden.« Mutter selbst hätte Dvořák gern persönlich geantwortet. »Per E-Mail hätte ich sicherlich auch schneller reagieren können«, sagt sie. „Aber natürlich weiß ich nicht, ob unsere Zusammenarbeit fruchtbarer gewesen wäre.«
Dass Anne-Sophie Mutter mit Dvořák nun wieder auf die Berliner Philharmoniker trifft, ist ein Glücksfall. Er lässt das blinde Vertrauen und den gemeinsamen musikalischen Geist zwischen Ensemble und Geigerin auferstehen – eine packende, romantische Wiederbegegnung mit der Vergangenheit im Jetzt.
Axel Brüggemann
August 2013