Im Schutz Sophias

Zu den Violinkonzerten von Gubaidulina und Bach – 2008 Im Schutz Sophias

Im Februar 2007 erhielt die 1931 im tatarischen Tschistopol geborene Komponistin Sofia Gubaidulina den renommierten Bach-Preis der Hansestadt Hamburg. Als »Pionierfrau der zeitgenössischen Klassik«, so hieß es, habe sie Brücken zwischen östlichen und westlichen Musiksystemen geschlagen.

Tatsächlich ist ihr Schaffen immer wieder auf vielfältige Weise von Johann Sebastian Bach inspiriert worden. Für Anne-Sophie Mutter lag es daher nahe, die Ersteinspielung des jüngsten, ihr selbst gewidmeten Violinkonzerts Gubaidulinas mit zwei Bach-Konzerten zu kombinieren: »Es gibt eine tiefe spirituelle Beziehung zwischen Gubaidulina und Bach. Auch schöpft sie – ganz ähnlich wie Bach – aus dem Glauben an Gott viel Kraft und letztlich auch eine ganz besondere Tonsprache«.

Das in den Jahren 2006/07 komponierte Violinkonzert ist Anne-Sophie Mutters erste Einspielung eines Werks von Gubaidulina, die seit 1992 in der Nähe von Hamburg lebt. »Ich wusste von dem Auftrag Paul Sachers und konnte sozusagen geduldig seit den 80er-Jahren auf ›mein‹ Werk warten. Was aber nicht heißt, dass ich versäumt hätte, Sofia Gubaidulinas Schaffen sehr aufmerksam zu verfolgen. Persönlich kennengelernt habe ich sie erst vor der ersten Orchesterprobe in Berlin, als ich ihr das Werk ›In tempus praesens‹ vorgespielt habe – ein sehr bewegender Moment für mich. Sie ist sicher eine der faszinierendsten Komponistenpersönlichkeiten, weil sich in jedem Ton so viel Tiefe der Empfindung offenbart. Sie lebt tatsächlich, um zu komponieren und sie komponiert nicht, um zu leben.«

Sofia und (Anne-)Sophie – die Verwandtschaft der Namen inspirierte die Komponistin. »Die ganze Zeit begleitete mich Sophias Gestalt – Gottes Weisheit. Ganz spontan sah ich es: Unsere Namen sind gleich – das gab den Grund für diese Assoziation«, erklärt Gubaidulina. Die Gestalt der Sophia hat für die Komponistin jene Bedeutung, für die sie im orthodoxen Christentum verehrt wird: Sophia ist die Personifikation der Weisheit, die der Schöpfungsgeschichte den Nährboden für alles Kreative und geistige Wirken, für Entwicklung und Entfaltung bereitet. Sie ist der Ursprung der Kunst, der künstlerischen Auseinandersetzungmit den Licht- und Schattenseiten menschlichen Daseins.

Die formale und musikalische Konzeptiondes fünfteiligen Violinkonzerts entfaltet sich in zwei Richtungen: Einerseits folgt sie dem leidenschaftlichen Willen zur Entwicklung, die sich mit einer potenzierten Anzahl von Klängen fächerförmig ausbreitet, in höchste Register (Himmel) vordringt, aber auch, etwa durch Posaunen, Tuba oder Kontrafagott, tiefste Regionen (Hölle) erreicht. Andererseits offenbart sich im Verlauf des Werks die unbedingte Notwendigkeit, diese ganze schöpferische Vielfalt wieder in einen einzigen Klang zusammenzuführen: ins Unisono – in die göttliche Einheit. Dies geschieht konkret im Übergang von der vierten zur fünften Episode.

Für Anne-Sophie Mutter ist gerade diese Passage besonders genial gesetzt. Die Geige versucht, dem orchestralen Schicksalsmotivzu entkommen, das sich in 40 Takten vor der Kadenz unbarmherzig wiederholt und steigert: »Das mündet in einen riesigen Höhepunkt und den entscheidenden Moment des Werks: schicksalsschwangere Stille einer genau ausgeschriebenen Generalpause, aus der uns in flehentlichem Duktus die Solo-Kadenz befreit.« Ein besonders großartiger Augenblick ist für die Solistin auch die russisch-orthodox anmutende Begräbnis-Szene, in düsteren Farben von den Celli und Violen gemalt. »Gegen Ende entfesselt sich noch einmal Ekstase mit den sich aufschwingenden Wagner-Tuben in einem enorm kraftvollen Moment der Auflehnung, als würde Brünhilde heranreiten ... ein Sieg über das Schicksal. Der Schluss entschwebt wunderbar positiv in höchsten Höhen, wobei uns die tiefen Streicherdurchaus noch einmal an das Düstere, den ›In-tempus-praesens‹-Kampf zwischen Hell und Dunkel erinnern. Ich höre darin den letzten Choral Bachs: ›Vor deinen Thron tret ich hiermit.‹ In dieser spirituellen Stimmung verklingt das Werk auf dem hohen fis.«

Johann Sebastian Bach lotete in seiner Musik das aus der Baukunst stammende Proportionskriterium »Goldener Schnitt« aus. Und auch für Sofia Gubaidulina gibt es das Ideal einer architektonischen Gesetzmäßigkeit in der Musik, die das Zeitverhältnis einzelner Formabschnitte zueinander bedingt. Entsprechende Berechnungen im Kanon der Zahlenmystik gewinnen im Violinkonzert große Bedeutung: Gubaidulina sucht erklärtermaßen den »Rhythmus der Form«. Die Solo-Violine wird dabei in »himmlische Sphären« entrückt, nimmt dadurch eine klangliche Sonderstellung ein, die durch den Verzicht auf erste und zweite Geigen im Orchesterverband ausdrücklich betont wird. Für Anne-Sophie Mutter ist dies bemerkenswert: »Die Solo-Geige hört nie auf zu sprechen, wächst aus dem Dialog mit dem Orchester heraus. Andererseits hängt das Orchester schattenhaft an ihr, wenn Thematisches in Bratschen und Celli echohaft nachklingt. Solch eine enge Vernetzung verstärkt den dramatischen Charakter des Werks. Dadurch entsteht vom ersten anklagenden Psalmus-Aufschrei der Solo-Violine an die beklemmende Wirkung. Es gibt keinen Moment des Durchatmens.«

In ihrer Karriere hat Anne-Sophie Mutter bereits eine ganze Reihe von zeitgenössischen Violinkonzerten uraufgeführt – das Violinkonzert von Sofia Gubaidulina aber hält sie für einzigartig: »Ich übertreibe nicht, wenn ich es als das bislang größte Erlebnis bezeichne, das mir eine moderne Partitur schenkte. Es steckt eine hohe emotionale Dichte in dem Stück.«

Der Ersteinspielung von Gubaidulinas 2007 in Luzern uraufgeführtem Meisterwerk sind Bachs Violinkonzerte BWV 1041 und 1042 gegenübergestellt. Anne-Sophie Mutter nimmt sie nach etwa 20 Jahren zum zweiten Mal auf, und ihr Blick auf Bach hat sich seitdem gewandelt: »Die Veränderung meiner Beziehung zu Bach hängt natürlich auch mit spannenden Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis zusammen«, so Mutter, »wobei ich persönlich Probleme habe mit Spezialistentum jedweder Art – die daraus entwickelten Doktrinen, die Hinterfragung verbieten, wirken einer freien Inspiration in der Kunst entgegen. Und Authentizität ist sowieso eine Utopie. Wir musizieren alle Bachs Musik aus dem Blickwinkel des 21. Jahrhunderts.«

Klarheit und Leichtigkeit soll durch einen sparsamen Umgang mit Vibrato und flüssige Tempi erreicht werden. Gerade in den schnellen Ecksätzen ist der Geigerin ein sensibler Umgang mit originalen Phrasierungen besonders wichtig: »Kann man sie mit einem modernen Bogen spielen? Die Antwort ist eindeutig nein. Deshalb habe ich früher mit einem modernen Bogen diese Phrasierungen nur teilweise realisiert, weil sie technisch zwar noch gerade machbar waren, aber nicht schlüssig klangen. Diesmal haben sowohl die Orchestermusiker als auch ich mit Kopien von Barockbögen gespielt und so ein ganz anderes Klangkonzept realisiert.« Anne-Sophie Mutter verzichtet dagegen auf das Aufspannen von Darmsaiten: »Ich bin sicher, dass Bachs Klangideal frei war von Intonationstrübung und anderen Defiziten der Darmsaiten. Ich spiele seit 20 Jahren eine weich umsponnene A-Saite, die klanglich mehr Wärme bietet und in gewisser Weise der Darmsaiten-Ästhetik eines runden Klangs näher steht.«

Beim Nachdenken über Bach erinnert sich Anne-Sophie Mutter noch einmal an dessen »Nachfahren im Geiste«: »Eines der für mich schönsten Barock-Zitate hat auch einen gewissen spirituellen Bezug zu dem Violinkonzert Gubaidulinas, ich denke an das Ende des Alban-Berg-Konzerts mit dem dort wunderschön zitierten Bach-Choral. Beide Werke tragen am Ende Hoffnung in sich.«

Selke Harten-Strehk

Mai 2008

  • Gubaidulina, Bach: GUBAIDULINA In tempus praesens
    Gubaidulina, Bach: GUBAIDULINA In tempus praesens
    Bach, Gubaidulina

    London Symphony Orchestra, Valery Gergiev, Trondheim Soloists, Anne-Sophie Mutter

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