Das ist die reinste Gottesgabe, wenn man große Künstler einmal nach Strich und Faden sezieren und ihre Schwächen bloßlegen will, doch gibt es einige wenige glückliche Künstler, die derartiger Beigaben nicht bedürfen: Zimerman, Heifetz, Karajan, de Larrocha und andere schweben vorüber, unberührt von derlei extravagantem Wortwerk, erhaben in ihrer Meisterschaft, als Virtuosen unantastbar. Und zu dieser Künstlerriege gehört die Geigerin Anne-Sophie Mutter. Bei ihren Einspielungen widmet sie sich mit Vorliebe Projekten wie den gesamten Violin-Sonaten und -Konzerten Mozarts, den Violinsonaten Beethovens und den Bach-Konzerten. Doch von Spezialisierung keine Spur, denn schließlich kommen bei ihr auch noch Bernstein, Korngold, Berg, Gubaidulina, Previn und Rihm dazu, Kompositionen, die in weniger berufenen Händen spröde und unzugänglich wirken können, doch unter ihrem Bogen in voller Schönheit erstrahlen. Auf das Bartók-Konzert mit seinem stürmischen, ehrfurchteinflößend virtuosen Beginn kann bei ihr direkt die intime, sehnsuchtsvolle Erste Violinsonate von Brahms folgen. Anne-Sophie ist mit Sibelius ebenso vertraut wie mit Mendelssohn, Tschaikowsky und dem eleganten Charme eines Kreisler oder Gershwin. Sie hat ein fast grenzenloses Klangrepertoire und angesichts der Vielfalt ihrer Phrasierungen und Stricharten kann ich nur staunen. Ich habe nie erlebt, dass ihr musikalisches Gespür sie einmal im Stich gelassen hätte, sie ist die ideale Interpretin, die ideale Geigerin.
Das Bild wäre unvollständig, wenn ich zum guten Schluss nicht noch auf ihre Haltung auf der Bühne einginge: Haare werfen, aufstampfen, das Gesicht gequält verziehen, um die eigene Leistung zu untermalen, all das ist ihre Sache nicht. Sie steht in vollkommener Ruhe da, runzelt manchmal nur leicht die Stirn oder lächelt, vollkommen konzentriert – die vollkommene Musikerin. Es gibt keine Interpretin und keinen Interpreten, die oder den ich mehr bewundere.
André Previn, April 2011