Beethoven Begegnungen

Interview – 1998 Beethoven Begegnungen

Sie interpretieren zur Zeit weltweit - zusammen mit Lambert Orkis - das Gesamtwerk der Sonaten für Piano und Violine von Ludwig van Beethoven (1770 - 1827) und machen eine Live-Aufnahme. Welche Gründe gibt es hierfür?

ASM: Das Konzertrepertoire, das Violinisten zur Verfügung steht, ist begrenzt. Obwohl seine Werke Kompositionen für Violine vermissen lassen, ist Beethoven doch einer der großen Komponisten für die Violine. Seine mangelnden Kenntnisse des Instruments haben ihm zu Inspirationen ohne Grenzen verholfen, die jedoch eher positiv als hinderlich sind. In seinem Violinkonzert bietet Beethoven nicht einfache virtuose Zierstücke, er hat eine ganz neue Sprache für die Violine erschaffen. So hat Beethoven das größte Violinkonzert der Geschichte geschrieben. Ich habe es oft interpretiert; aber die Violine Beethovens drückt sich zuerst in seiner Kammermusik aus. Seine gesamten Sonaten zu spielen heißt, ihre innere Entwicklung verfolgen zu wollen. Er war der erste Komponist, der der Violine eine gleichwertige Stimme gegeben hat. Beethoven nahm den Gedanken der Partnerschaft zweier Instrumente auf, den Mozart in seinen letzten Sonaten bereits eingeführt hatte.

Nach einer langen Periode, in der Sie sich verstärkt der zeitgenössischen Musik widmeten - wie erklären Sie diese Rückkehr zum klassischen Repertoire?

ASM: Ich bin eine Astronautin, die vom Mond zurückkehrt. Dank Paul Sacher habe ich eine neue Dimension in der zeitgenössischen Musik entdeckt, ein Universum von Farben, und niemand hat jemals vorher von mir verlangt, diese in Töne umzusetzen. Also muss ich neue Sprachen lernen. Diese Begegnungen mit Lutoslawski, Moret, Rhim oder Penderecki haben aus mir eine vollkommenere Musikerin gemacht. Das Konzert von Beethoven, mit dem ich mich im Alter von vierzehn Jahren zum ersten Mal beschäftigt habe und das ich mit Karajan aufgenommen habe, ist heute wie ein altes Foto.

Keine Interpretin vor Ihnen hat sich jemals ein solches Plattenprojekt vorgenommen. Ist das nur ein Zufall?

ASM: In der Geschichte der Schallplatte und in der Geschichte der weiblichen Instrumentalisten hat nur meine Generation in den letzten Jahren für eine Gleichstellung der Frauen gesorgt. Wunderbare Instrumentalistinnen fehlen nicht in der Geschichte der Musik, wohl aber in der Geschichte der Schallplatte. Erica Morini gehört zu den Großen, Ida Haendel hat nie eine Gesamtaufnahme der Beethovensonaten gemacht, und Ginette Neveu ist zu jung gestorben, als dass sie ein solches Projekt hätte realisieren können. Bezeichnender Weise hängt meine erste Erinnerung an diese Sonaten mit einer Interpretin zusammen. Bevor sie sich - relativ früh - entschied, ihre künstlerische Karriere zu beenden und sich ganz dem Unterrichten zu widmen, hat meine Lehrerin Aida Stucki den kompletten Zyklus der Sonaten für Piano und Violine von Beethoven interpretiert, sehr selten für eine Frau ihrer Zeit.

Spielte Aida Stucki die Sonaten in chronologischer Reihenfolge?

ASM: Nein, und dies ist aus musikwissenschaftlicher Sicht ungünstig. Jede Sonate enthält eine Geschichte. Sie sind miteinander verbunden. Diese Verbindung, Beethovens stilistische Weiterentwicklung, wird schon durch die Konzertpause und die damit verbundene geistige Abschweifung gestört.

Welcher Logik folgt die chronologische Ordnung, und welche Einteilung der zehn Sonaten haben Sie gewählt?

ASM: Es ist ein kolossales Werk, das fünfzehn Jahre aus dem Leben Beethovens widerspiegelt. Lambert Orkis und ich haben die Vorteile und die Unannehmlichkeiten verteidigt, die die Länge des ersten Programms oder die Kürze des dritten bieten. Am ersten Abend werden die ersten fünf Sonaten gespielt. Die Sonaten Nr. 1, 2 und 3 sind untrennbar. Sie zeigen den Einfluss von Haydn und Mozart. Sie sind die Versuche Beethovens, die Violine in den Dialog mit einzubeziehen. Die Stimme des Instruments dominiert die zweiten Sätze, aber insgesamt sind die drei ersten Sonaten nicht violinistisch, daher technisch eine größere Herausforderung für den Pianisten. Die Wechselwirkung zwischen den Instrumenten wird ab der Vierten Sonate spürbar, die man nicht von der Fünften trennen kann. Beide zeigen die gleichen für den Komponisten typischen Merkmale, der in einer Phase seines Lebens gerne zwei Welten einander gegenüber stellte. Die Vierte ist düster und brodelnd, die Fünfte frisch und romantisch. Aber kann man den "Frühling" lebendig werden lassen, wenn man nicht vorher die Dunkelheit des Novembers erfahren hat, eine Dunkelheit, die in der Vierten Sonate in a-Moll versteckt ist? Der erste Abend wird der längste sein. Komposition und Inhalt eines Konzerts stehen miteinander in Verbindung.

Stehen die Sonaten ihrem Wesen nach dem weiblichen Geist nahe?

ASM: Männlich oder weiblich, die Sonaten Beethovens vereinen beide Welten. Die fünfte Sonate für Piano und Violine, "Der Frühling", ist die weiblichste. Sie ist die erste, die ich interpretiert habe, die zugänglichste. Ihre geistige Offenheit ist großartig. Die Zehnte ist der Triumph der Sensibilität, die man im allgemeinen nicht mit dem typisch männlichen Charakter gleich stellt. Meiner Meinung nach sollte man sich den Sonaten jedoch nicht über die zehnte nähern, die zur gleichen Zeit wie die achte Symphonie komponiert wurde. Beethoven kämpft hier einmal nicht gegen die Realität. Der großartige Geist dieser Sonate in G-Dur, ein Diskurs über die Größe des Daseins, beschwört die Bestrebungen eines hohen Lebensideals. Zeit seines Lebens schrieb Beethoven immer wieder Appelle an die Menschheit. Fidelio, die Missa Solemnis und seine neunte Symphonie zeigen dies ganz deutlich. Beethovens letzte Sonate verlangt vom Interpreten eine große Reife. Diese ist meine Lieblingssonate.

Welcher Logik folgen die zwei anderen Abende - nach dem Marathon der fünf ersten Sonaten?

ASM: Das zweite Programm umfasst logischer Weise die drei Sonaten des op. 30. Die sechste Sonate trägt die Schlüsselrolle im Prozess von der Klaviersonate mit Violinbegleitung zur Sonate für zwei gleichberechtigte Instrumente. Der ursprünglich für diese Sonate geschriebene letzte Satz wurde von Beethoven durch einen Variationssatz ersetzt und für die 1803 abgeschlossene Kreutzersonate verwendet. Die Siebte, die einzige op. 30, die aus vier Sätzen besteht, ist singulär in ihrer weit angelegten Form. Der dritte Satz dieser Sonate ist ein sarkastisches Scherzo, das typisch ist für Beethovens Kunst. Viele Musikkritiker lauern hier auf die Interpreten. Ich erinnere mich an den Ausruf eines Kritikers während des Konzerts mit Aida Stucki: "Mein Gott, sie können nicht einmal zusammen spielen." Es ist wahr, dass in den Scherzi der Beethoven-Sonaten der Pianist und der Violinist einander in Synkopen nachlaufen. Danach folgt die Achte Sonate in G-Dur, die unglaublich warmherzig und heiter ist. Noch einmal in einem Zeitraum von zwei oder drei Jahren komponierte Beethoven hier drei sehr stark kontrastierende Werke. Perfekte Dialoge zwischen Piano und Violine bestimmen die neunte (Kreutzer) und die zehnte Sonate, die das dritte Programm darstellen. Die Kreutzer ist wie ein Konzert für Piano und Violine. Die Idee eines virtuosen Duos liegt dieser Sonate zugrunde. Die negative Resonanz im Jahr 1805 ist typisch für das Nachhinken des Zeitgeschmacks. Man sprach davon, dass Beethoven von einem ästhetischen oder artistischen Terrorismus befangen sei. In der zehnten Sonate ist die Bitterkeit verschwunden, hier spricht der Humanist; Beethoven bietet die Hand. Aus diesem Grund geben wir in diesem Jahr, das den Sonaten gewidmet ist, so viele Benefizkonzerte. Ist nicht Beethoven der Komponist, der am besten die Sprache des Herzens spricht? Deshalb beginnen wir die Tournee mit einem Konzert in München im Prinzregenten-Theater, einem Benefizkonzert für mukoviszidosekranke Kinder. Gleich darauf folgt das Benefizkonzert in Frankfurt, dessen Reinerlös für den Wiederaufbau eines Waisenhauses in Victoria, Rumänien, verwandt wird.

Sie haben bereits einige der Sonaten in Ihren Konzerten gespielt. Wollten Sie von Anfang an beim kompletten Zyklus enden?

ASM: Zehn Jahre künstlerischer Zusammenarbeit haben das Projekt besiegelt. Lambert Orkis und ich feiern 1998 den zehnten Jahrestag unserer Zusammenarbeit, und wir dachten, wir könnten das Risiko eingehen, ein ganzes Jahr unseres Lebens den Beethoven-Sonaten zu widmen. Eine solche Tournee ist eine große Herausforderung. Nicht nur die physische Anstrengung will bewältigt sein - auch die enorme Konzentration, die das Programm abverlangt. Alle diese Sonaten sind so verschieden voneinander. Man kann nicht die ersten drei so spielen, wie man die reife Zehnte interpretiert. Das Jahr 1998 wird eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit Beethovens drei Schaffensperioden sein.

Die Wahl von Lambert Orkis war seinerzeit eine überraschung. Aus welchen Gründen haben Sie sich für ihn entschieden?

ASM: Derer gibt es eine ganze Menge. Eine musikalische Zusammenarbeit muss wachsen. Sie braucht Zeit, um tiefer zu werden, und eine große Zahl von Konzerten mit möglichst unterschiedlichen Repertoires.

Ist ein international renommierter Solist auch automatisch ein großer Kammermusiker? Ich glaube das nicht. Ich brauchte einen Pianisten mit weit gespannten stilistischen Fähigkeiten, einer starken Kontrolle über verschiedene Färbungen und großem Einfühlungsvermögen, schließlich auch jemanden mit eigener Meinung - Lambert hat all das in sich vereint. Er ist aber kein Solist, der im Vordergrund stehen muss. Seit Anbeginn unserer Zusammenarbeit im Jahr 1988 arbeiten Lambert und ich jeden Sommer für viele Wochen an neuen Recital-Programmen, aber auch immer wieder seit dieser Zeit an den beethovenschen Sonaten. Viele Faktoren unterscheiden Lambert und mich. Gerade die unterschiedlichen Auffassungen, unsere kulturelle Vergangenheit, die in zwei Kontinenten verankert ist - die seine in den USA, meine in Europa - spielen eine bereichernde Rolle. Sein Repertoire hat sich lange Zeit an der zeitgenössischen Musik orientiert, während ich mit dem Repertoire der Wiener Klassik aufwuchs. Seit einigen Jahren setzt sich Lambert Orkis intensiv mit dem Spiel auf historischen Tasteninstrumenten auseinander. Daraus resultierend ist sein stilistisches Verständnis stark ausgeprägt und die Feinfühligkeit, mit der er auf die unterschiedlichsten Tasteninstrumente reagieren kann, machen auch die große Farbpalette aus, die er in der Lage ist, auf einem Konzertflügel zu erzielen. Darüber hinaus spielt das harmonische Verständnis im Sinne von polyphoner Gewichtung gerade in der Kammermusik eine entscheidende Rolle. Es geht niemals darum, ob ein Pianist zu laut oder zu leise ist, sondern vielmehr um das Hervorheben der im Augenblick des musikalischen Geschehens wichtigsten Stimmen. Wenn dies gelingt, kann man einen Sonatenabend auch bei völlig geöffnetem Flügel spielen, ohne dass die Violine jemals in die Not käme zu forcieren.

Uns verbindet auch ein starkes soziales Engagement. Abschluss unserer Weltreise mit Beethoven wird ein Konzert in Beethovens Geburtshaus sein, das wir anlässlich seines Taufgedenktages am 17. Dezember 1998 spielen werden. Auch dieses Konzert wird der Restaurierung des Beethoven-Hauses gewidmet sein.

Sie haben in Bonn die Originalpartituren der Sonaten studiert?

ASM: Ja, diejenigen, die dort aufbewahrt werden; einige befinden sich in Wien. Ich war mehrmals im Geburtshaus von Beethoven in Bonn. Beim Studium der Original-Partituren kann man sehen, wie er um jede Note rang. Besonders bei der Siebten Sonate, bei der die Menge der Korrekturen den geschriebenen Noten geradezu ein Eigenleben verleiht.

Welche Ihrer Stradivaris haben Sie für die Sonaten ausgewählt?

ASM: Die Lord Dunn Raven von 1710. Ich habe sie vor einem Dutzend Jahren gekauft. Meine erste, die Emiliani, ist superb, aber ihr fehlt eine Dimension. Sie klingt superb, das ist alles. Sie hat keine Schärfe. Ich vermisse die ungezügelte Kraft. Diese Rohheit brauche ich für die eruptiven Momente der Beethoven-Sonaten. Man braucht sie für Brahms, Sibelius und die zeitgenössischen Werke.

Sie nehmen die Sonaten live auf; wie haben Sie entschieden, in welcher Reihenfolge Sie aufnehmen und in welchen Sälen?

ASM: Wir werden mit den letzten fünf Sonaten beginnen. Wir haben sie seit mehreren Jahren im Repertoire und sind da auf bekanntem Terrain. Für die Aufnahme haben wir einen Saal ausgewählt, der keines der beiden Instrumente begünstigt, einen Saal, in dem ein bekanntermaßen aufmerksames Publikum uns mit seiner Stille unterstützen wird. Der Musikverein in Wien wäre eine Möglichkeit gewesen, aber dort spielen wir erst am Ende der Tournee. Unsere Wahl ist auf die Philharmonie in Berlin gefallen, die für mich mit vielen wunderbaren Erinnerungen an Karajan verbunden ist. Die fünf ersten Sonaten werden in der Carnegie Hall in New York aufgenommen werden, deren Akustik exzellent ist. Dort werden wir etwa nach der Hälfte der Tournee auftreten. Wir haben uns für eine Live-Aufnahme entschieden, weil ich glaube, dass diese Musik, um sie gut zu spielen, eine weitere Passion braucht: die der Zuhörer. Die atemlose Stille des Publikums ist der Nährboden, auf dem die musikalische Saat erst aufgeht.

Lassen Ihnen Ihre Konzerte Zeit, sich mit Ihrer Stiftung zu beschäftigen?

ASM: Ich engagiere mich für die zeitgenössische Musik und ihre künftigen Interpreten. Ohne bereits zur alten Generation zu gehören, glaube ich, dass den Jungen geholfen werden muss. Meine große Lehrerin Aida Stucki hat mich in der Tradition Carl Fleschs erzogen. Dieser singuläre Pädagoge darf nicht vergessen werden. Aus diesem Grund setze ich mich für die Erneuerung des Carl-Flesch-Wettbewerbes in London ein. Zudem habe ich meine Stiftung in München, die sich mit der Förderung des Streichernachwuchses weltweit befasst. Wir vergeben Stipendien an begabte Geiger, Bratschisten, Cellisten. Diese Stipendien und meine Kontakte zu den internationalen Solisten ermöglichen es meinen jungen Kollegen aus der ganzen Welt, wichtige Anregungen im Austausch auch mit Gleichaltrigen zu finden.

Die Beschaffung eines Instrumentes ist existenzieller Teil eines jeden Streichers, ist doch das Instrument unsere Stimme, unser ganz intimer Partner. Es ist Teil der Persönlichkeit. Stiftungen, die sich nach bürokratischen Regeln orientieren, gefährden sehr oft den künstlerischen Entwicklungsprozess eines Musikers, indem man sich auf die Regeln beruft und die ausgeliehenen Instrumente nach viel zu kurzer Zeit wieder zurückfordert. Die Finanzierung eines Streichinstrumentes bereitet ebenfalls Probleme. All dies sind Dinge, die mir sehr am Herzen liegen, all dies sind Hürden, über die auch ich mich in meiner Jugend irgendwie hinweg arbeiten musste. Hat man diese gemeistert, so bleibt noch die größte Gefahr zu überwinden, der Moloch des Musikmarketings.

Durch aggressives Marketing sind es oft nicht die Musiker, die beeindrucken, sondern die Verpackung, das Image, die Jugend, die Virtuosität, die Sensation. Das alles ist gefährlich, es dient nicht der Sache. Musik ist kein Geschäft, Musik ist wie die Luft zum Atmen und auch, wie die bildende Kunst, Nahrung für Geist und Seele.

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