Hommage à Penderecki – 2018 Eine außergewöhnliche Künstlerfreundschaft

Wege aus dem Labyrinth

Anmerkungen zur Künstlerfreundschaft zwischen Krzysztof Penderecki und Anne-Sophie Mutter Wege aus dem Labyrinth

»Ich liebe es, unbekannte Wege zu gehen. Wenn ich komponiere, muss ich das tun, sonst kommt nichts dabei heraus. Ich beginne irgendwo in der Mitte eines Werkes, gehe nach rechts oder links und muss immer wieder den Weg suchen, oft auch zurückgehen. Ich komponiere, bis mir irgendwann klar wird, dass ich es eigentlich viel besser könnte. Dann beginne ich von vorne.«

Auch mit 85 Jahren hat das Denken von Krzysztof Penderecki nichts von dem selbstkritischen Impuls früherer Jahrzehnte verloren. Die handwerkliche Sicherheit muss gewachsen, ja ins Unermessliche gestiegen sein – man kann es sich anders nicht vorstellen angesichts dieses Riesenœuvres eines der größten Komponisten der Gegenwart, das Meisterwerke wie Anaklasis, das Stabat Mater, die Lukas-Passion, Bühnenwerke wie Die Teufel von Loudun oder Paradise Lost, Sinfonien, Konzerte, Kammermusik umfasst. So ehrfurchtgebietend wirken die Zeugnisse eines in allen Gattungen gleichermaßen präsenten, universellen Geistes, dass der Gedanke, sie seien mühevoller, auch von Selbstzweifeln begleiteter Arbeit abgerungen, fast abwegig erscheint. Doch mit der Sicherheit wächst auch der Anspruch an das eigene Schaffen, das Gefühl der Verantwortung, die man übernimmt. »Kompositionsphasen sind Tage des Zweifels, sogar der Verzweiflung. Man schlägt völlig unterschiedliche Wege ein, darunter auch ganz falsche. Man bewegt sich wie in einem Labyrinth. In Lusławice, wo ich lebe, habe ich ein solches Labyrinth gepflanzt. Es ist so groß, dass ich manchmal den Weg und damit natürlich auch nicht sofort den Ausgang finde. Das empfinde ich als ungeheuer faszinierend. Wenn ich ein größeres Werk schreibe, dann habe ich das Gefühl, mich in einem solchen Labyrinth zu bewegen. Ich gehe nach vorn, zweige ab und gehe wieder zurück. Ich suche. Und letztlich gibt es beim Komponieren genauso wie im Labyrinth nur den einen Weg zurück, die beste Lösung eben. Genau die muss man finden.« 

Wie ein großes, nicht unheimliches, wohl aber ebenso faszinierendes wie großartiges Labyrinth wirkt auch Krzysztof Pendereckis Zweites Violinkonzert, das er achtzehn Jahre nach seinem Ersten vollendete. In diesem begab sich Penderecki – nach den radikal avantgardistischen und experimentellen Werken der sechziger Jahre – sehr bewusst auf Spurensuche nach den musikalischen Idiomen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, den großen Violinkonzerten von Beethoven bis Berg. Im Zweiten verwirklichte er deutlicher die Synthese der eigenen, in den zurückliegenden Jahrzehnten realisierten, sehr unterschiedlichen stilistischen Ausrichtungen. Selbst ein ausgezeichneter Geiger, beginnt Penderecki 1992 mit der Arbeit, vollendet das Werk nach längeren Unterbrechungen am Karsamstag 1995 in Krakau und widmet es Anne-Sophie Mutter, die noch im selben Jahr die Uraufführung spielt. 

Den Beginn ihrer so fruchtbaren künstlerischen Beziehung sieben Jahre zuvor beschreibt der Komponist als einen »Schock«. 1988 dirigiert Penderecki bei den Luzerner Festwochen Sergej Prokofjews Erstes Violinkonzert und erlebt eine fünfzehnjährige Geigerin, die ihn vom ersten Moment an elektrisiert. »Da steht ein Kind mit einer Geige und musiziert wie ein Erwachsener, eigentlich besser, nämlich frischer. Anne-Sophie hatte von Anfang an etwas Besonderes, was sich nur schwer beschreiben lässt. Sie spielte fantastisch, vor allem aber war ihre Interpretation fantastisch.« Damals entstand der Wunsch, für diese junge Ausnahmekünstlerin zu komponieren, ein Wunsch, aus dem nach dem Zweiten Violinkonzert noch drei weitere Kompositionen erwuchsen, die alle auf diesem Album versammelt sind. Den Titel des Konzertes Metamorphosen fand Penderecki erst am Ende des langen Schaffensprozesses, als ihm bewusst wurde, wie zentral das Thema Verwandlung für sein Werk ist. Metamorphosen besteht aus einem einzigen großdimensionierten, stark symphonischen, zugleich rhapsodisch angelegten Satz, ein Werk voller Kontraste, das sich zwischen berührend ruhigen und innigen Passagen und wilden, rhythmisch vertrackten, von motorischer Energie vorangetriebenen Ausbrüchen bewegt. Eine große Solokadenz bietet der Interpretin alle Möglichkeiten der virtuosen Selbstverwirklichung, ehe sich der Solopart wieder ins symphonische Geschehen integriert und das Konzert in einem meditativen Gesang verklingt. Für wen er hier komponierte, war Krzysztof Penderecki nach eigener Aussage früh und stets bewusst. Dass Anne-Sophie Mutter dem Konzert in einer existentiellen Lebenssituation begegnen würde, konnte sein Schöpfer nicht ahnen: »Mein Mann starb wenige Wochen nach der Uraufführung. Ich studierte das Werk, das für mich eine ungeheure Tiefendimension besitzt, als er schon sehr krank war. Metamorphosen brachte etwas zum Schwingen in mir, half mir dabei, die Verwandlung vom Hier und Jetzt in eine andere Dimension zu verstehen, vielleicht auch zu verarbeiten. Deshalb nimmt es einen besonderen Platz in meinem Leben ein. Überhaupt ist es weit mehr als nur Bewunderung, was mich seit Jahrzehnten mit den Werken von Krzysztof Penderecki verbindet. Mich erschüttert die Tiefe der Empfindung, die aus ihnen spricht – fast mehr noch als sein kompositorisches Genie.«

Das gilt genauso für Pendereckis Zweite Violinsonate, im Jahr 2000 ebenfalls für Anne-Sophie Mutter komponiert und ihr gewidmet. Ein großer, gut halbstündiger, vielschichtiger, immer wieder auch dramatischer Diskurs über das Leben in all seinen Facetten, der sich am Ende, wenn das wunderbare Thema des dritten Satzes wie ein Art Aufschrei wiederkehrt, zur großen Bogenform schließt und Publikum wie Interpreten erschüttert zurücklässt. »Für mich spricht aus dieser Musik so viel von diesem großen Künstler, von seiner Seele. Es ist eine ganz eigenständige Qualität und Ausdruckstiefe, die längst nicht jedes musikalische Werk besitzt – schon gar nicht in der Gegenwart. Ich empfinde das als großes Geschenk!« Wie sehr ein solches Werk unter den Händen der Interpreten ein Eigenleben entwickelt, das fasziniert Penderecki selbst: »Es mag seltsam klingen, aber letztlich bezweifle ich, dass man die eigene Musik so gut versteht. Man schreibt und schreibt. Erst wenn man sie hört – und so hört, wie Anne-Sophie sie spielt – begreift man sie wirklich. Es sollte ursprünglich gar kein dramatisches Werk werden, so war es nicht intendiert. Aber es hat sich so ergeben.« 

Etwas »Labyrinthhaftes« besitzt für Anne-Sophie Mutter auch das 2013 komponierte, rund zwölfminütige Werk für Violine solo La Follia. Man könnte an eine Verbeugung vor den großen barocken Vorgängern denken, nicht abwegig bei einem Komponisten, der in Bach »den größten Gott« sieht, »ohne den ich nicht komponieren würde«. Auf jeden Fall lässt sich die neunfache Verarbeitung eines barocken Sarabanden-Themas, diese kunstvolle Abfolge von Variationen als ein Bekenntnis zu Geschichte und Tradition hören, die Penderecki auf seine Art weiterschreibt. Dass er sie mit Blick auf die Widmungsträgerin und Interpretin der Uraufführung im Dezember 2013 mit allerhöchsten virtuosen Ansprüchen vollpackte, versteht sich von selbst, schon der Titel könnte auch auf diese »Verrücktheiten« verweisen. Selbst eine Anne-Sophie Mutter meint, sie habe sich wegen einiger schier unspielbarer Intervalle beim Komponisten ausweinen müssen. Aber es sind genau solche Schwierigkeiten, die sie reizen: »Ein zeitgenössisches Werk eröffnet immer wieder die Möglichkeit, Neues zu entdecken, neue Klangfarben, technische Herausforderungen, von deren Existenz ich nichts wusste. Ohne das wäre mein Leben ärmer. Mir fehlte diese besondere intellektuelle Herausforderung.« Anders als der große Monolog La Follia folgt das 2010 für Anne-Sophie Mutter und Roman Patkoló geschriebene Duo concertante dem Gedanken eines musikalischen Dialogs. Wir erleben ein durchaus amüsantes Wechselspiel, in dem sich zwei Partner ihre Gedanken zuwerfen, sich aus dem Weg gehen, schweigen und den anderen reden lassen, einander zuhören. 

Konzerte, Sonaten, Solowerke, Duos – es ist der Kreis der klassischen Formen, die Krzysztof Penderecki als einer der Großen unserer Zeit abschreitet und den er zugleich immer wieder erweitert. »Ich komponiere seit meinem sechsten Lebensjahr. Jetzt bin ich fast 85. Das ist so wunderbar am Komponieren: Man kann immer wieder etwas Neues schaffen, vor allem für eine so wunderbare Geigerin wie Anne-Sophie Mutter. Dann hat man auch Lust, immer neue Wege zu suchen – und findet sie auch. Mit jedem neuen Werk beginne ich wieder bei null, denke zuerst über Formen nach. Natürlich kann ich Noten schreiben. Aber ich möchte Formen finden und etwas aus ihnen machen, das es früher noch nie gab, das ist doch der Anspruch. Doch letztlich sind alle Formen im Grunde klassische Formen. Es gibt keine anderen.«

Oswald Beaujean, Juni 2018

  • Hommage à Penderecki
    Hommage à Penderecki
    Penderecki

    Anne-Sophie Mutter, Roman Patkaló, Lambert Orkis, London Symphony Orchestra, Krzysztof Penderecki

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