Ein Resümee des 20. Jahrhunderts – 2000 Back to the Future

Paul Sacher - Interview

Der Mäzen des Jahrhunderts Paul Sacher - Interview

Wenn Herbert von Karajan Anne-Sophie Mutter die Türen ihrer Karriere geöffnet hat, hat Paul Sacher nie aufgehört, sie in das Labyrinth der Musik unseres Jahrhunderts zu führen. 1998, im Alter von 92 Jahren, erinnerte sich der große Musiker und Mäzen.

G. Gad: Welche Periode unseres Jahrhunderts war aus der Sicht der Schöpfungskraft der Kunst Ihrer Meinung nach die wichtigste?

P. Sacher: Ohne Kreation ist unser Leben arm. Die nicht schöpferischen Perioden sind Perioden des Chaos, in denen die Wellt sich in Gefahr befindet. Die Momente, wo die Schöpfungskraft der Kunst wieder entsteht, wo man das Chaos verlässt, sind wunderbar.

GG: Ist denn das Chaos notwendig?

PS: Alles geht aus ihm hervor, aber es muss nicht zu lange dauern. Indem sie Meisterwerke interpretiert und sie wieder erschafft, ist eine Künstlerin wie Anne-Sophie Mutter eine Zeitzeugin unserer Epoche.

GG: Ist es nicht so, dass sie durch ihr Spiel nicht viel mehr nur die Schöpfungskraft suggeriert, oder ist sie in dem Moment, wo sie spielt, die Schöpferin?

PS: Beides. Ihr Spiel ist ein Kunstwerk in sich selbst und entkräftet die Vorstellung, dass ein Interpret nicht als Genie bezeichnet werden kann.

A.-S. Mutter: Wie definieren Sie eine kreative Periode?

PS: Es gibt dafür keine Definition. Höchstens kann man von Eindrücken sprechen. Rückblickend, erscheint uns die Epoche, wo der "Sacre du Printemps" kreiert wurde, als außergewöhnlich, aber die Explosion, die wir zur Zeit erleben, wird vielleicht unseren Enkelkindern wie eine goldene Zeit vorkommen.

GG: Was die Musik betrifft, kann man immer von Fortschritt reden?

PS: Wir können es auch nicht sofort begreifen. Der "Sacre" ist wie eine Bombe angekommen. Man hat erst im Nachhinein festgestellt, was dieses Meisterwerk für die Musik bedeutet.

GG: Unter allen diesen Meisterwerken, die Sie ins Leben zurückgeholt haben und die Ihnen gewidmet sind, gibt es ein besonderes, worauf Sie stolz sind?

PS: Ein Meisterwerk herauszuheben, würde bedeuten, die anderen zu vernichten. Ich bin stolz auf alle diese Werke, weil unabhängig von dem Ergebnis jedes von ihnen eine Leistung zeigt, die ein Meisterwerk in sich ist.

ASM: Sind alle Stücke gespielt worden, die Sie in Auftrag gegeben haben?

PS: Alle – und es sind fast 300 Stücke.

GG: Gibt es welche, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind?

PS: Es fällt mir keines ein, aber es gibt sicher welche. Zum Beispiel bewundere ich die Musik von Honegger und ich frage mich, warum sie nicht öfters gespielt wird, besonders in Deutschland. Ich glaube, dass einige Werke zur richtigen Zeit vom Himmel fallen und andere nicht. Was die Letzteren anbetrifft, wenn die richtige Zeit kommt, kann es passieren, dass niemand sich erinnert, dass sie schon lange existieren. Ich hoffe, da zu sein, wenn dieser Moment für Honegger kommen wird. Es wäre schade, wenn man sich nur an seine "Jeanne d'Arc" erinnern würde, die übrigens wunderschön ist.

GG: Dagegen scheint "die richtige Zeit" für Henri Dutilleux gekommen zu sein.

PS: Ich bewundere Dutilleux sehr, aber ich denke, dass er nie sehr berühmt wird.

GG: Wie analysieren Sie die Bedeutung von Pierre Boulez im Musikleben unserer Zeit, sowohl als Komponist wie auch als Förderer?

PS: Er hat immer viel Erfolg als Förderer gehabt, weil er trotz der Distanz, die er gegenüber allem zeigt, stark an das glaubt, was er unternimmt. John Cage war ihm ähnlich. Er war sogar außergewöhnlicher als Förderer wie als Komponist. Seine Ideen waren Meisterwerke in sich selbst. Es stellte sich die Frage, ob wir alles kaufen, was er nach seinem Tod hinterlassen hat, aber etwas Unvorhergesehenes hat uns daran gehindert: eine Frau, die über sein Werk arbeitete und unbedingt weiter als Kuratorin mitwirken wollte.

ASM: Sie haben eine Stiftung gegründet, um die Werke der Komponisten unseres Jahrhunderts zu sammeln und damit sie erhalten bleiben?

PS: Ja – Stellen Sie sich mal vor: Wenn ich jedes Mal den Kurator hätte versorgen müssen, würde ich eine Pension leiten.

GG: Wenn Sie die Originalpartituren angeschafft haben, worin besteht dann Ihre Arbeit?

PS: Sechs Musikwissenschaftler arbeiten ständig an den Manuskripten, die wir besitzen und sechs Bibliothekare verwalten den Bestand und verhindern, dass diese Schätze für immer verloren gehen.

ASM: Besitzen Sie Manuskripte von Bartók?

PS: Zur Zeit einige. Aber Peter Bartók hat versprochen, die "amerikanischen" Archive seines Vaters der Stiftung zu vermachen, die etwas mehr als die Hälfte seines Bestandes ausmachen. Bartók hatte zwei Söhne von zwei verschiedenen Ehefrauen und wir werden nie bekommen, was von dem anderen Sohn in Budapest verwaltet wird.

ASM: Haben Sie schon bei Bartók etwas bestellt?

PS: Ja, oft. – Er antwortete immer, dass er vor allem Klavierlehrer wäre, und dass er nur in seinen Ferien komponieren würde. Der Grund, warum er soviel in der Schweiz komponiert hat, ist, dass er dort seine Ferien verbracht hat.

GG: Welche Erinnerungen haben Sie an ihn?

PS: Alles war einfach und offen mit ihm, weil er es so wollte. Man konnte sich nicht vorstellen, dass er lügen konnte. Nur wenige Leute können diesen Eindruck der Aufrichtigkeit von sich geben.

ASM: Und Strawinsky?

PS: Er war ein echter Russe, aber er war glücklich überall, wo er komponieren konnte. Er war ein Wunder in jeder Hinsicht. Welcher andere Komponist hat im Alter von 80 Jahren noch mit dem 12-Tonsystem angefangen zu komponieren? Was mich sehr beeindruckte, war, dass dieser Mann, dem nichts widerstehen konnte, so gläubig und so bescheiden in seinem Glauben war.

GG: Ist der Glaube unbedingt mit Bescheidenheit verbunden?

PS: Für Strawinsky war Gott eine Realität und die Religion lebenswichtig. Wir haben das gleiche Phänomen bei Olivier Messiaen festgestellt. Der Glaube an Gott ist eine Frage der inneren Kraft und geht aus der selben Logik wie die künstlerische Schöpfung hervor. Ein gläubiger Künstler, der bescheiden in seinem Glauben ist, ist eine Ausnahme.

ASM: Bei Richard Strauss war es nicht der Fall.

PS: Ich habe Strauss in München nach dem Krieg kennen gelernt. Alles, was für ihn im Leben zählte, war zerstört. Er wusste nicht mal, wie er überleben sollte, obwohl er so reich gewesen war und so oft gespielt wurde. Zu der Zeit schrieb er seine Partituren mit der Hand wieder ab, um sie zu verkaufen. Als ich ihn zum ersten Mal getroffen habe, hat er mir gesagt "ich habe gerade das komplette Werk von Goethe zum zweiten Mal gelesen." "Wie haben Sie die Zeit dafür gefunden?" habe ich ihn gefragt. Seine einzige Antwort war : "Man kann doch nicht ständig die Zeit verbringen ein Orchester zu dirigieren." Als ich ihn gefragt habe, ob er für mich etwas komponieren würde, hat er mir einfach gesagt : "Meine Frau würde Sie gern kennen lernen, aber sie ist krank. Sie müssen Sie in ihrem Zimmer besuchen." Ich bin hingegangen und nach fünf Minuten hat Strauss gesagt: "Sie ist einverstanden. Ich werde für Sie etwas komponieren." So hat er "Metamorphoses" geschrieben. Als das Werk in Zürich mit dem Collegium Musicum eingeübt wurde, hat er mich benachrichtigen lassen, dass er nicht zum Konzert kommen würde, aber dass er sich gern eine Probe anhören würde. Dann hat er gebeten, das Orchester zu dirigieren. Er ist auf das Podium gestiegen und hat wortlos den Startschuss gegeben. Am Ende hat er gesagt: "Meine Damen und Herren, ich bedanke mich", und hat sich wieder hingesetzt.

ASM: Lutoslawski war auch fähig zu solchen Dingen. Als ich sein Concerto für Geigen probte, war er in dem Saal, aufmerksam, aber zu schüchtern, um Bemerkungen zu machen.

PS: Bei Strauss war es keine Schüchternheit. Was ihm fehlte, war ein körperlicher Kontakt zu seinem Werk.

ASM: Es muss tatsächlich frustrierend sein, ein Stück, das man komponiert hat, nicht erleben zu können.

GG: Welche dieser Aktivitäten, für die Sie Ihr Leben gewidmet haben, erscheint Ihnen heute die Wichtigste zu sein? Die als Musiker (Gründer von drei Orchestern), die als Pädagoge oder die als Mäzen?

PS: Sie sind untrennbar.

ASM: Wie kamen Sie auf die Idee, Werke im Auftrag zu geben?

PS: Es ist sehr einfach: Vor 70 Jahren war ich 20 Jahre alt. Ich hatte Lust, unbekannte Werke zu spielen, insbesondere aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Zu dieser Zeit waren die Symphonien von Haydn zum Teil unbekannt, deren Partituren schwer auffindbar und es existierten natürlich keine Aufnahmen davon. Sobald man von den "Londoniennes" abschweifte, begannen die Abenteuer. Nachdem man die Partituren aufgetrieben hatte, musste man mit der Hand die verschiedenen Teile abschreiben, um das Orchestermaterial zu haben. Es dauerte Monate! Dann dachte ich, dass es viel einfacher wäre, neue Werke zu bestellen, die unseren Musikern und deren Kompetenz entsprechen würden. Im Grunde, Aufträge nach Maß, musikalische "Haute-Couture".

GG: Was halten Sie von der Bewegung, den Barock neu zu interpretieren?

PS: Was mir bei den alten Instrumenten gefällt, ist ihre Verwandtschaft. Es gibt zum Beispiel unter den Bratschen, soprano, alto, tenor und bass, die die ganze Tonleiter umfassen. Es ist etwas Besonderes, ein Werk von Purcell mit seinen 4 Bratschen zu hören. Eine wahre akustische Freude.

GG: Und was die Interpretation anbetrifft? Kann man die Concertos von Mozart mit alten Instrumenten spielen?

PS: Nein, es bringt nichts.

ASM: Ohne vibrato verliert man viele Farben und Emotionen.

PS: Es ist sehr nützlich, solche Experimente zu machen. Aber was bringt es der Musik? Die Zukunft eines Werkes liegt in der Art, wie es in jeder Epoche gespielt wird, und nicht in der Rückkehr zu einer hypothetischen Authentizität. Um eine Partitur besser zu verstehen, muss man natürlich ihre Gesamtumstände und die Instrumentaltechnik, wovon sie abhängt, kennen. Aber spielt man heute Shakespeare, wie man ihn früher im Theâtre du Globe gespielt hat?

ASM: Kannten Sie Schoenberg?

PS: Nein. Ich habe alle aus dieser Generation verpasst. Schoenberg ist zu früh emigriert, Alban Berg ist zu früh gestorben.

GG: Wenn Sie sie gekannt hätten, was hätten Sie von Ihnen erwartet?

PS: Musik zu schreiben, nichts anderes. Aber man kann nicht das Schicksal herausfordern.

GG: Sie scheinen nicht von der Oper begeistert zu sein.

PS: Ich habe trotzdem eine gewisse Erfahrung in diesem Bereich: Ich habe mehrere Jahre beim Festival von Glyndebourne dirigiert, wo die Arbeitsbedingungen außergewöhnlich gut sind. Ich glaube nicht, dass die Oper ihr letztes Wort gesprochen hat. Die Mischung von Handlung und Musik ist zu reichhaltig, um sie aufzugeben. Egal, was man darüber erzählt, bleibt die Oper die Vollendung einer Karriere: Reimann, Maessian und Ligeti haben Opern komponiert, Halffter ist gerade dabei, eine zu komponieren, und Boulez hat ewig einen Textdichter gesucht.

ASM: Apropos Halffter: Was halten Sie von dem augenblicklichen Frühling der spanischen Musik?

PS: Er hat schon vor 40 Jahren angefangen, insbesondere Dank Halffter.

GG: Hat sich die Qualität der Orchester im Laufe eines halben Jahrhunderts verbessert?

PS: Technisch gesehen, sehr viel. Die Musiker sind ehrgeiziger. Heute sieht man Orchester mit jungen Leuten, bei denen der besondere Ehrgeiz darin liegt, genauso schnell wie ihre ältesten Kollegen, den Anweisungen der Dirigenten zu folgen. Wie bei den Wiener Philharmonikern brauchen sie immer seltener einen Chef, der sie kontrolliert.

GG: Hat sich auch die Ausbildung verbessert?

PS: Sicher. Deswegen die wachsende Qualität der Musiker. Und wenn Anne-Sophie die Zeit zu unterrichten haben wird, wird es noch besser werden.

GG: Was hat Sie spontan bei Anne-Sophie Mutter beeindruckt?

PS: Ihre außergewöhnliche Begabung und die Sicherheit, mit der sie sie anwenden kann. Boulez schreibt gerade für sie ein Concerto, das eine halbe Stunde dauern wird. Ist es nicht ein Beweis Ihrer unglaublichen Fähigkeit?

GG: Wie haben Sie sie kennengelernt?

PS: Ich habe sie spielen hören, als sie 13 oder 14 Jahre alt war. Ich musste weinen.

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