„...keine Show”

Im Gespräch über Brahms Violinsonaten – 2010 „...keine Show”

Anne-Sophie Mutter: Meine erste Begegnung mit den Brahms-Violinsonaten hatte ich ganz am Anfang meiner musikalischen Laufbahn, in meinem sechsten Lebensjahr. Ich hatte gerade erst begonnen, Geige zu spielen, da erlebte ich David Oistrach und Frieda Bauer in Basel mit den drei Brahms-Sonaten. Die Musik nahm mich total gefangen. Und das lag nicht nur an David Oistrachs Persönlichkeit, an diesem warmen Samt in seinem Ton, seiner unglaublichen Ausdruckskraft, und es lag nicht nur daran, dass dieses Konzert meine Liebe zur Geige natürlich generell verstärkte; nein, es lag auch an Brahms’ Musik selbst.

Sie erschien mir als perfekt geeignet für die Violine, weil sie ihren gesanglichen Qualitäten gerecht wird. Als ich das erste Mal die Sonaten gespielt habe, muss ich schon 15, 16 gewesen sein. Es gab immer Zeiten in meinem Leben, in denen ich mich intensiv mit einem bestimmten Komponisten beschäftigte, wie bei dem Mozart-Zyklus, den wir vor ein paar Jahren gemacht haben, oder wie bei dem Beethoven-Zyklus von 1998. Und es gab also auch diese Phase, in der ich mich noch als Teenager sehr, sehr intensiv mit Brahms auseinandergesetzt habe. Das war um die Zeit meiner Aufnahme des Brahms-Violinkonzerts und des Brahms-Doppelkonzerts mit Herbert von Karajan. Und damals entstand auch meine erste Aufnahme der Sonaten.

Lambert Orkis: Meine ersten Erfahrungen mit den Violinsonaten machte ich nicht als Hörer, sondern als selbst Spielender. Ich war damals noch jung, 14 oder 15, und studierte am Curtis Institute. Ein Studienkollege brauchte einen Pianisten, um mit ihm die Regenlied-Sonate im Unterricht zu spielen. Ich ließ mich darauf ein und dachte, ich könnte sie einfach vom Blatt spielen. Aber mein Gott! Damit hatte ich nicht gerechnet. Brahms’ Klaviersatz ist sehr dicht. Damals war mir das noch nicht klar, aber heute denke ich, dass er darin sehr stark von seinen Chorkompositionen beeinflusst wurde. Seine Stimmführung ist phantastisch. Und findest du nicht auch, dass sich diese Sonaten erheblich unterscheiden von denen Beethovens und Mozarts für die gleiche Besetzung? Es mangelt ihnen nicht an musikalischem Dialog, aber die Instrumente werden einfach besser ihrem Charakter gemäß eingesetzt. Brahms wusste sehr genau, wie er damit Stimmungen schaffen konnte. Du kannst mit der Geige wirklich flüstern. Das Klavier auch, aber ich habe zudem das Pedal, mit dem ich dieses fast impressionistische Schimmern erzeugen kann. Und dann diese Momente der Stille, wenn das Flüstern anhebt und dazu dieser Klangnebel aus dem Klavier aufsteigt – das ist Brahms. 

Anne-Sophie Mutter: Was die Spielbarkeit angeht, war Beethoven für die Geige ein grauenvoller Komponist. Aber Brahms wusste sehr genau, wie man die Violine behandeln muss. Er lernte diesbezüglich eine ganze Menge von Joseph Joachim, den er als Zwanzigjähriger kennengelernt hatte. 

Lambert Orkis: Trotzdem, Brahms war Pianist und kein Geiger. Dabei wird häufig gesagt, Brahms habe nicht zwangsläufig pianistisch gedacht. In mancher Hinsicht werden seine Klavierparts sogar als klobig bezeichnet. Man hat die Hände voller Töne, aber diese dienen nicht etwa ihrer eigenen Klangherrlichkeit, sondern nur ihrer musikalischen Funktion. Brahms schickte die Sonaten an Clara Schumann, weil er ihrem Urteil vertraute. Bei der d-moll-Sonate sagte er ihr sogar, dass er sie nicht spielen werde, wenn sie ihr nicht gefiele. Von den drei Sonaten ist sie für das Klavier die vielleicht komplexeste, vor allen Dingen der erste und der letzte Satz. 

Anne-Sophie Mutter: Ich kann nicht sagen, welche der drei Sonaten für die Geige am schwierigsten ist. Jede hat ihre besonderen Charakteristika, denen man gerecht werden muss. 

Lambert Orkis: Ich meine gehört zu haben, dass du die G-dur-Sonate am problematischsten findest, und zwar rein auf das Instrument bezogen: Die Tonansprache könne unter zu viel oder zu wenig Luftfeuchtigkeit leiden... 

Anne-Sophie Mutter: Das ist richtig. Ich muss manchmal so zart streichen, dass der Einfluss der Luftfeuchtigkeit auf die Bogenbespannung aus Pferdehaar deutlich spürbar ist. 

Lambert Orkis: Ich habe bei der G-dur-Sonate das gleiche Problem, und zwar beim letzten Satz mit den filigranen Regentropfen: Schwankungen in der Luftfeuchtigkeit verändern die Repetition der Klaviermechanik. Die Leute fragen immer, warum wir so viel proben – genau deshalb. 

Anne-Sophie Mutter: Für mich nimmt die G-dur-Sonate eine ganz besondere Stellung ein, weil sie vielleicht das privateste der drei Werke ist. Brahms hat dieser Sonate das Thema seines von Clara Schumann so geliebten Regenlieds zugrunde gelegt, und dieses punktierte Thema zieht sich wie ein roter Faden durch alle drei Sätze. Clara hatte gerade ein Kind verloren, und ihr Sohn Felix hatte Tuberkulose. Es ging ihr also sehr schlecht, und Brahms schrieb diese Sonate, um sie zu trösten. 

Lambert Orkis: Er schickte sie ihr, und sie war wohl so berührt davon, dass ihr die Tränen kamen. 

Anne-Sophie Mutter: Die A-dur-Sonate, die acht Jahre später komponiert wurde, ist sehr viel sonniger. Da hatte Brahms ein Auge auf eine Sopranistin geworfen – und war wieder einmal im Urlaub am Thuner See. Er hat furchtbar gern im Urlaub komponiert, alle drei Sonaten entstanden so. Die Sonate in A-dur ist sehr offen, sehr freudig, eigentlich der genaue Gegensatz von der in G-dur, mit zwei sehr schwierigen Vivace, mit einem wunderbar gesanglichen letzten Satz, der fast klingt wie ein Willkommensgruß an diese Frau Spies, deren Ankunft er erwartete . . . Die d-moll-Sonate, die zur selben Zeit begonnen wurde, kann man auch als Konzert für Geige und Klavier bezeichnen, mit sehr düsterem Antlitz, fast dämonisch, mit einem wunderbaren Adagio, einem spukhaften Scherzo und einem wirklich tornadoartigen Presto, in das Lambert und ich uns regelmäßig am Ende eines langen Abends mit Verve stürzen. 

Lambert Orkis: In gewisser Hinsicht ist die d-moll-Sonate die komplexeste, und vielleicht geht Brahms hier auch raffinierter mit dem Material um. Sein Klaviersatz war immer etwas wuchtig. Auch bei dieser Sonate setzt er seine musikalischen Vorstellungen mit den gewohnten großen Tonsprüngen und vollen Akkorden um, aber auf sehr viel kunstvollere Weise – als ob er schließlich einen besseren Weg gefunden hätte, seine kompositorischen Ziele zu erreichen. 

Anne-Sophie Mutter: In Bezug auf die Geige kann ich das nicht sagen; alle Sonaten sind von ähnlicher Perfektion. Das liegt vielleicht daran, dass die Geige gerade nicht sein Instrument war und Joachim einen so starken Einfluss hatte. Wir haben diese Sonaten jetzt seit über zwanzig Jahren im Repertoire. Meine Sichtweise von Brahms – wie von allem, was ich heute spiele – hat sich natürlich verändert. Mein Musikverständnis hat sich weiterentwickelt, wie auch überhaupt – ob man will oder nicht – das Leben seine Spuren hinterlässt, nicht nur mental, sondern auch im Herzen und in der Seele: Man wird reifer. Und bei den Brahms-Sonaten erlebe ich in unserer Interaktion sehr viel mehr Gespür für Details, für Klangfarben und für die dialogischen Verflechtungen. 

Lambert Orkis: Wir haben diese Sonaten studiert, mit ihnen gelebt, sie auf verschiedenen Kontinenten zusammen gespielt und sind mittlerweile um ein paar Lebenserfahrungen reicher geworden. Dies alles fließt jetzt in unser Musizieren ein. Und der Komponist Brahms macht keine Show. Er zeigt uns das Leben, die Schönheit, die Kunst. Einfach wundervoll.

Das Gespräch wurde aufgezeichnet am 4. Dezember 2009.

Brahms-Video mit Lambert Orkis
  • Brahms: Die Violinsonaten
    Brahms: Die Violinsonaten
    Brahms

    Anne-Sophie Mutter, Lambert Orkis

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