Der Rest ist Geschichte. Karajan lädt sie direkt fürs Folgejahr zu den Salzburger Festspielen ein, wo sie mit ihrer ebenso berührenden wie technisch brillanten Interpretation von Mozarts G-Dur-Konzert das eigentlich eher distinguierte Salzburger Publikum zum Toben bringt. Fortan reißen sich die Toporchester um das hochbegabte Mädchen aus dem Schwarzwald, und in den nächsten vier Jahrzehnten reist Anne-Sophie Mutter rund um den Erdball, im Gepäck die großen Violinkonzerte von Beethoven, Brahms und Co., daneben zeitgenössische Kompositionen und ausgewählte Kammermusikwerke.
Das Vorspiel bei Herbert von Karajan ist mittlerweile 47 Jahre her, im Juni 2023 feierte Anne-Sophie Mutter ihren 60. Geburtstag. Viele Künstler ihres Ranges würden aus diesem Anlass vielleicht ein Album mit großem Orchester aufnehmen und eines der berühmten romantischen Violinkonzerte aufs Programm setzen. Anne-Sophie Mutter hat sich anders entschieden: Sie gab mit ihrem eigenen Ensemble, Mutter’s Virtuosi, ein Konzert im traditionsreichen Saal des Wiener Musikvereins, und der Mit- schnitt dieses Abends bildete die Basis für das vorliegende Album.
Die Virtuosi sind ein Streichorchester aus hochtalentierten Nachwuchsmusikern, die sich überwiegend aus ehemaligen und aktuellen Stipendiaten der Anne-Sophie Mutter Stiftung rekrutieren. Die Förderung des musikalischen Nachwuchses liegt Anne-Sophie Mutter sehr am Herzen, sie weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, dass Spitzentalente Unterstützung erfahren. Deshalb gründete sie 1997 den »Freundeskreis der Anne-Sophie Mutter Stiftung e.V.«, dem 2008 die »Anne-Sophie Mutter Stiftung« zur Seite gestellt wurde. Diese kümmert sich um die Bereitstellung von Instrumenten, verschafft Kontakte zu Solisten und deren Meisterkursen, vermittelt Vorspieltermine bei Dirigenten und vergibt Kompositionsaufträge für neue Werke.
Mutter’s Virtuosi sind somit de facto das Orchester der Stiftung, das naturgemäß sehr international und divers zusammengesetzt ist und sich regelmäßig runderneuert. Seit seiner Gründung 2011 hat es etliche erfolgreiche Tourneen im In- und Ausland absolviert, und sein kammermusikalischer Zuschnitt eignet sich besonders für Stücke aus dem Barock und der Wiener Klassik. Auf dem Programm des Konzerts in Wien standen darum Vivaldis Konzert für drei Violinen in F-Dur sowie Bachs Brandenburgisches Konzert Nr. 3. Für sich selbst als Solistin wählte Anne-Sophie Mutter Bachs a-Moll-Konzert sowie als Überraschung ein hochvirtuoses Violinkonzert des Mozart-Zeitgenossen Joseph Bologne. »Ich finde ihn als Komponisten wahnsinnig interessant und vielschichtig«, erzählt Anne-Sophie Mutter, »dies gilt auch für die wenigen Biografien, die es über ihn gibt.« Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges, war der Sohn einer karibischen Sklavin und eines französischen Aristokraten. Er wuchs in Adelskreisen in Paris auf und wurde als Geiger, Dirigent und Komponist ausgebildet, später bewarb er sich um die Leitung der Pariser Oper, wurde aber seiner Hautfarbe wegen abgelehnt. »Bolognes Violinkonzerte sind innovativ und sehr virtuos. Sie verlangen dem Solisten einiges ab«, erzählt Anne-Sophie Mutter. »Sein Oeuvre und seine Lebensgeschichte sollten uns doppelt dazu motivieren, diesen wunderbaren Komponisten sehr viel mehr in den Mittelpunkt der Programme zu rücken.«
Neben all den Violinkonzerten aus dem 18. Jahrhundert sollte das Programm auch ein weiteres Anliegen von Anne-Sophie Mutter abbilden: das Repertoire für Geige und Streicher kontinuierlich zu erweitern. Dafür steht das von ihr für die Virtuosi in Auftrag gegebene Nonett von André Previn, das zwei Streichquartette mit dem Kontrabass in der Mitte vereint. »Dieser Surroundsound, der durch die Gegenüberstellung der beiden Streichquartette mit dem Bass als Soloinstrument erzielt wird, ist wirklich sagenhaft«, schwärmt die Geigerin. »Den Anstoß dazu gab der große Kontrabassist Roman Patkoló«, erklärt sie. »André war von seinem Spiel so fasziniert, dass er für ihn diese tolle Kadenz schrieb; insofern hat Roman die Entstehung des Werks entscheidend beeinflusst.«
Über André Previn kam Anne-Sophie Mutter auch in Kontakt mit dem berühmten Filmkomponisten John Williams. »Ich war schon immer ein großer Bewunderer seiner Musik und habe ihn vor etwa zehn Jahren in Tanglewood kennengelernt«, erzählt sie. Bei dieser Begegnung fragte sie bei ihm an, ob er ein Stück für sie schreiben könnte, doch Williams war zu beschäftigt. Erst als die Geigerin ihm zu Weihnachten Lebkuchen schickte, wurde der Komponist aktiv und widmete ihr Markings, das Mutter 2017 in den USA zur Uraufführung brachte. Williams schrieb auch einige seiner schönsten Filmmelodien für Mutter um, die sie gemeinsam in Los Angeles aufgenommen und später mit den Wiener Philharmonikern auch live gespielt haben. 2021 folgte das Anne-Sophie Mutter gewidmete Zweite Violinkonzert, und beim Konzert der Virtuosi erklangen als Zugaben auch neue, eigens für die Virtuosi umgearbeitete Arrangements von Themen aus Cinderella Liberty und Schindler’s List, zwei berührende Stücke voller Wärme und Melancholie.
Als weitere Zugabe spielten die Stargeigerin und ihr junges Orchester für das begeisterte Publikum in Wien den virtuosen Presto-Satz des »Sommers« aus Vivaldis Vier Jahreszeiten, der auf geniale Weise die Urgewalt eines Gewitters musikalisch nachzeichnet. Und somit erweist sich Anne-Sophie Mutter somit auch auf diesem Album als eine der vielseitigsten Künstlerinnen der internationalen Klassikszene. Souverän bewegt sie sich zwischen Barock, Filmmusik und zeitgenössischen Werken und kümmert sich zusätzlich mit Hingabe um Nachwuchsmusiker, die mehr zu bieten haben als sportliche Perfektion. Denn eines ist für sie klar: »Musik berührt nur, wenn sie eine Geschichte erzählt. Und den heranwachsenden Geschichtenerzählern bin ich auf der Spur.«
Mario-Felix Vogt